Der Fall ist bekannt: 1942 erschießt Meursault am Strand von
Algier einen Araber. Der Tod seiner Mutter sowie die Hitze werden als
Entlastungsgründe vorgeführt, der ganze Prozess dreht sich um den Täter. Doch
wer ist das Opfer? Nicht einmal einen Namen gibt Albert Camus ihm ihn seinem
großen Roman „L’étranger“ – doch nun spricht sein Bruder, der nie über den Mord
hinwegkommt und Moussas Geschichte bekanntmachen will. Seine Trauer spricht aus
jedem Satz und sein Ärger über die Arroganz des Kolonialherren, die sich
exemplarisch an den beiden Brüdern zeigt, aber in dieser Weise von vielen
erlebt wird.
Ein interessanter Ansatz, den Kamel Daoud wählt und durchaus
berechtigt, denn die Gegendarstellung erhellt das, was bei Camus im Dunkeln
bleibt. Er gibt dem unbenannten Toten einen Namen und eine Geschichte und verleiht
so seinem ganzen Heimatland ein Gesicht. Inhaltlich spannend und sehr
lesenswert, bleibt der Roman jedoch sprachlich für mich etwas hinter den
Erwartungen zurück. Es fehlen die ganz großen Kniffe – auch wenn der erste Satz
für Kenner von Camus schon bezeichnend und sehr gelungen ist.
Ob der Roman ohne seinen Vorgänger lesenswert ist, sei
dahingestellt. Für mich macht er erst in Kombination wirklich Sinn und ergänzt
um die Folgen und die Reaktionen auf die Erzählung – in Algerien wie in Frankreich
– gewinnt er erst sein tatsächliches Gewicht.