Marc Rappaport, Spross einer reichen französischen
Unternehmerfamilie, recherchiert für einen Artikel über eine ermordete Prostituierte.
Der Fall liegt 30 Jahre zurück und blieb bis dato ungeklärt. Ein zufälliger
Gentest hat nun einen Schuldigen hervorgebracht, an dessen Täterschaft Marc
nicht glaubt. Er beginnt mit seinen Nachforschungen und bald schon eröffnet sich
vor ihm ein unsäglicher Sumpf von menschlicher Niederträchtigkeit, wirtschaftliche
Interessen, die über das Leben gestellt werden, Affäre und Verwicklungen und
Politiker, die nicht nur korrupt, sondern auch brutal sind. Dazwischen normale
Menschen, denen Mittel und Wege fehlen, sich gegen die Mächtigen des Landes zur
Wehr zu setzen. Marc will nicht nur die Wahrheit ans Licht bringen, sondern
auch diesen Menschen helfen, nicht ahnend, dass er damit sein eigenes Weltbild
und sein Dasein ebenfalls zu Fall bringen könnte.
Wie viel kann man in einen Roman packen? Gila Lustiger stellt
vordergründig einen Mordfall ins Zentrum ihrer Erzählung. Doch spiralförmig
holt sie mehr und mehr aus und eröffnet vor dem Leser ein fundiertes und
differenziertes Bild Frankreichs der letzten 30 Jahre. Die hohen Erwartungen
und bisweilen kühlen Familienverhältnisse innerhalb der französischen Oberschicht,
wo man sich dank der ENA und exquisiten Diners natürlich kennt. Das sich
deutlich von Deutschland unterscheidende Verhältnis zur Sexualität und Affären –
und auch Prostitution. Die engen Verstrickungen von Politik und Wirtschaft,
gefördert durch Verstaatlichungsprozesse und Wiederprivatisierung. Dazu „der
kleine Mann“ – bzw. hier sind es eher Frauen – die davon träumen dazuzugehören,
aufzusteigen oder doch wenigstens ein bisschen Glück und Zufriedenheit vom
Leben zu erhalten.
Der Protagonist ist vielschichtig gezeichnet, bedingt durch seine
Herkunft mit entsprechender Erziehung und finanziellem Rückhalt, aber auch durch
den Faktor Jude zu sein und diese Kultur und Weltsicht mit über seine Annahmen
bestimmen zu lassen, blickt er aus einem ganz besonderen Winkel auf die
Geschehnisse und kann sich selbst nicht daraus lösen. Aber genau diese Haltung und
dieser Background sind erforderlich, um Zugang zu unterschiedlichsten
Personengruppen Zugang zu erhalten und so mosaikartig ein Bild unseres
Nachbarlandes entstehen zu lassen. Seine Beziehungen sind schwierig und genau
dies wird ebenfalls äußert differenziert dargestellt durch immer wiederkehrende
Rückblicke und Episoden seiner Kindheit. Die Handlung folgt trotz der
zahlreichen Exkurse letztlich dem roten Faden des Mordfalles, auch wenn es
gegen Ende etwas undurchschaubar wird und die Lösung sich plötzlich
präsentiert.
Fazit: ein überwältigender Roman. Komplex, intensiv,
überzeugend.