Gina Davis, genannt Puppe, hat Träume, mit dem Geld, das sie
sich als Tänzerin in einer Nachtbar verdient, will sie irgendwann ein neues
Leben anfangen. Bald schon wird sie genug zusammen haben, um eine eigene
Wohnung anzuzahlen. Als Puppe nach den Mardi Gras Feiern mit einem Mann eine Nacht
verbringt, ahnt sie schon, dass dies vielleicht ihrem Leben eine neue Wendung
gibt, immerhin haben sie Nummern ausgetauscht. Und tatsächlich wird ihr Leben
nicht mehr so sein wie zuvor: der Unbekannte war ein vermeintlicher Terrorist
und sie die letzte, die mit ihm gesehen wurde. Auf pixeligen Bildern einer
Überwachungskamera ist zu sehen, was die Polizei und die Medien sehen wollen:
ein Terroristenpaar, das Australien in Angst und Schrecken versetzen will. Die
Terrorfahndung läuft und Puppe versucht davonzulaufen.
Richard Flanagan bringt die vermutlich schlimmsten Ängste
der „einfachen“ Bevölkerung auf den Punkt: einerseits der Terrorist, der wie
ein guter Bürger unbekannt und unbehelligt neben einem wohnt und seine perfiden
Pläne schmieden kann; andererseits das Opfer einer unheimlichen Verschwörung zu
werden und keinen Ausweg mehr zu finden. Das Setting seines Romans bietet genau
dies: auf der Polizei, Geheimdiensten und Politikern lastet ein enormer Druck, dem
Volk Schuldige zu präsentieren, zu zeigen, dass man die Lage im Griff hat und schnellstmöglich
Verbrecher ausschalten kann. Dass dieser Druck bisweilen zu voreiligen oder gar
falschen Ergebnissen führt, ist offenkundig. Auf der anderen Seite steht die
Protagonistin, die ihre Lage lange Zeit gar nicht erfassen kann und dann wie
ein verschüchtertes Tier getrieben wird von den Medien und den Ordnungsorganen
bis sie sich selbst zu einer reinen Verzweiflungstat genötigt sieht. Innerhalb weniger
Tage wird aus einer Zeugin eine schwarze Witwe, die meistgesuchte Täterin
Australiens, eine Frau, deren Leben in die Öffentlichkeit gezerrt wird. Wie
sich aus einer einzigen Information ein ganzes, verzerrtes Bild entwickeln kann
und wie sich diese Dynamik nicht mehr aufhalten lässt, zeigt Flanagan auf
beeindruckende Art und Weise.
Der Roman kann vor allem überzeugen durch die gelungene
Kombination einer spannenden, fast krimihaften Story, die mit recht hohem Tempo
voranschreitet und von einer glaubwürdigen, facettenreichen Protagonistin
getragen wird. Zum anderen von Flanagans kritischen Darstellung des Lebens in
einer verängstigten Gesellschaft. Die Menschen sind bereit zu glauben, was die
Medien ihnen vorsetzen. Die Medien stehen unter dem permanenten Druck neue und
vor allem sensationelle Nachrichten zu produzieren, um ihre Stelle am Markt zu
behaupten. Die Politiker müssen liefern, Stärke zeigen und können lange
Ermittlungen nicht dulden. Ein Teufelskreis indem alle sich gegenseitig
antreiben und dabei völlig den Blick für die Realität verlieren, nicht mehr hinterfragen
und bereit sind, die absurdesten Szenarien für möglich zu halten. Wer hier
zwischen die Räder der Maschinerie gerät, kann nicht mehr heile rauskommen.
„Die unbekannte Terroristin“ – ein literarischer Beitrag zu
aktuellen Entwicklungen, der uns vor Augen führt, dass wir gelegentlich
innehalten und fragen sollten, ob wirklich alles so ist, wie es scheint und wer
gerade bestimmt, was wir sehen und glauben sollen.
Herzlichen Dank an den Piper Verlag für das Rezensionsexemplar. Mehr Informationen zum Titel finden sich auf der Seite des Verlags.
Herzlichen Dank an den Piper Verlag für das Rezensionsexemplar. Mehr Informationen zum Titel finden sich auf der Seite des Verlags.