Montag, 26. September 2016

J.M. Coetzee - The Schooldays of Jesus

Review, Novel, Man Booker Prize Longlist

Simón, Inés and Davíd had to flee and now come to Estrella where they hide among fruit pickers. Quickly it becomes obvious that Davíd is not an ordinary child, he asks a lot of questions and at the same time his view of the world cannot really be understood. When he is enrolled in the Academy of Dance – public schools are no option for obvious reasons – he feels comfortable and at home. The school’s strange philosophy seems to give him everything he needs and dancing becomes a new passion for him. For Simón and Inés this is difficult to understand and with the child’s gradual alienation they also find it more and more difficult to agree with each other.

J.M. Coetzee’s novel was nominated on the 2016 longlist for the Man Booker Prize. Normally, this is an indicator for me to read and book and I was never disappointed. However, this time the novel really had me despaired. First of all, I could hardly orientate in the novel. Where are we? And when? At least approximately. As I figured out in the meantime, there is another novel by Coetzee called “Childhood of Jesus” which might give some explanation to that. Second, most of the book is about the academy’s philosophy – and this was completely lost to me. Even more than to the protagonist Simón who also does not understand the least of what the teachers try to explain. Thirdly, which is closely linked to my first point, the family relationships were all but clear to me, this might be due to the fact that there is a first book in the series that I was not aware of.

Leaving aside the unease while reading, what does this text qualify for the Man Booker Prize nomination? It raises some questions which are definitely worth asking: who am I? What defines me? Which role do the family and the surrounding play in constructing me? Additionally, we have complex inner and out of family relationships which develop, intensify and loosen in the course of the story. The way especially Simón and Davíd not only interact but also react and define themselves through the other are quite interesting to observe.


All in all, I guess a lot of the story was lost to me. Unfortunately, there was too much I was wondering about to really enjoy it. 

Sonntag, 25. September 2016

Philipp Winkler - Hool

Roman, Rezension, Shortlist, Deutscher Buchpreis 2016

Wenn das Leben wenig zu bieten hat und die eigene Familie sich in ihre Bestandteile aufgelöst hat, braucht man einen Ersatz. Heiko hat ihn gefunden: gemeinsam mit seinen Kumpels ist er nicht nur Fan von Hannover 96, sondern Hool. Wenn die Fußballer ihre Duelle auf dem Platz austragen, freuen sie sich schon auf die dritte Halbzeit, wenn die Anhänger der Teams auf der Straße aufeinander treffen und in heimlichen Fights nach ihrem Sieger suchen. Sein Onkel Axel, Inhaber eines Gym mit illegalen Nebengeschäften, hat ihn schon früh an die Hand genommen, als sein Vater in Depressionen versank nachdem die Mutter davongelaufen war. Genau wie Axel wird auch Heiko den Absprung nicht schaffen, obwohl sich nach und nach die Kumpels in ein bürgerliches Leben verabschieden. Welches Leben wartet auch schon auf ihn? Er hat doch nur die Fights.

Philipp Winklers Roman ist einer der sechs verbliebenen der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2016. Thematisch sicher der ausgefallenste von den Nominierten, die ich gelesen habe. Heiko ist ein krasser Außenseiter, der am Rand der Gesellschaft lebt und dessen Dasein von einem ganz anderen Takt und anderen Werten bestimmt wird. Man teilt seine Einstellung über weite Strecken nicht und dennoch kann man nicht sagen, dass er einem gänzlich unsympathisch ist. Das, was er seinen Freunden an Zuneigung und Hilfe entgegenbringt, ist schon beachtenswert – allerdings sind diese auch seine Ersatzfamilie nachdem dir originäre sich aufgelöst hat. Eine völlig ausgereifte Figur mit vielen Facetten, kein unbedarfter Teenager mehr, aber auch noch nicht ganz im Leben angekommen. Nicht auf der Suche nach dem Sinn des Lebens, kein großer Zweifler, aber im eigenen Leben nicht zu Hause und das richtige ist nur manchmal verschwommen am Horizont erkennbar.

Worin liegt die Qualität des Romans, die die Nominierung rechtfertigt? Ein Einblick in das Leben eines Menschen am Rande der Gesellschaft, thematisch gewagt; mit Hooligans werden nicht viele Leser etwas anfangen können, es mag sogar eher verschrecken – insbesondere Titel und Cover sind hier sehr drastisch, was jedoch zum Buch passt. Die Konstruktion des Romans wird nicht gleich offensichtlich, es dauert ein wenig, bis man durchschaut, was Winkler sich da ausgedacht hat. Wir werden nicht chronologisch durch die Handlung geführt, sondern haben zwei Stränge: Heikos Leben im Jetzt, das zeitlich voranschreitet und Heikos Leben in der Familie, das rückwärts läuft und erst spät aufklärt, wie es zur Fragmentierung kam. Eine sehr gelungene Erzählweise, die sich kompliziert anhört, aber dennoch gut zu lesen ist. Der Ton ist glaubwürdig getroffen und passt zur Szene. Alles in allem, ein in sich völlig stimmiger und runder Roman, auf den es lohnt, sich einzulassen.

Gila Lustiger - Erschütterung

Rezension, Essay, Sachbuch

Schon im Januar 2015 wurde Paris mit den Anschlägen auf die Redaktion von Charlie Hebdo und den Hyper Cacher schwer getroffen. Aber die Attentate am 13. November gingen viel stärker noch in das Bewusstsein der Franzosen ein, denn dieses Mal traf es die normale Bevölkerung, Menschen, die sich am Freitagabend amüsieren wollten, die ein Konzert besuchten und in Bars saßen, Menschen, die keine Schuld auf sich geladen und doch den Zorn von Terroristen auf sich gezogen hatten. Die deutsche Autorin Gila Lustiger hat diesen Abend und die folgenden Tage miterlebt und ihre Erschütterung in einem Essay festgehalten. Dabei spielen auch die Jugendkrawalle aus dem Jahr 2005 eine wesentliche Rolle, waren diese doch Vorläufer dieser Attentate, ebenso wie die zunehmende Anzahl an antisemitisch motivierten Einzeltaten.

Auf das Buch wurde ich durch eine Veranstaltung mit der Autorin aufmerksam, in der sie zum einen auszugsweise vorlas, zum anderen aber auch noch einmal spontan in Worte fasste, weshalb sie dieser Abend so sehr persönlich getroffen hat. Gewalt und Bedrohung im Alltag sind ihr nicht fremd, immerhin hat sie einige Zeit in Jerusalem gelebt und als Jüdin ist sie insbesondere mit den Facetten sublimer und offener Feindseligkeit vertraut. Man merkte ihr sowohl bei der Lesung wie auch im Buch an, dass die Tage im November sie persönlich stark berührt haben. Dieser sehr persönliche Ton, wie auch die offenen Beschreibungen ihrer Gefühle zwischen Verzweiflung, Unverständnis und Aktionswille, machen ganz wesentlich den Essay aus. Der Versuch als Außenstehende die französische Gesellschaft und die Problematik der Cités zu analysieren gelingt ihr meines Erachtens ebenfalls sehr gut, unter anderem weil sie auch eigene Erfahrungen mit der Frage von Assimilation und dem Recht der Bewahrung von Herkunftssprache und -kultur gemacht hat.


Es ist nicht die große gesellschaftlich-politische Analyse, die umfassend alle Frage beantwortet, sondern ein sehr persönlicher Bericht und Blick auf die aktuelle Situation Frankreichs. Am Ende schafft sie auch einen ganz wesentlichen Schritt: nicht mehr viel über die Täter reden, sondern auch die Opfer in den Fokus rücken, diejenigen, die für die Fehler anderer bezahlen mussten.

Samstag, 24. September 2016

Owen Sheers - I Saw a Man

Rezension, Roman, Krimi

Ein gefährlicher Einsatz, ein Versehen, eine ganze Reihe von Opfern. Die Journalistin Caroline stirbt bei einem Auslandsdreh in Afghanistan durch eine amerikanische Rakete. Ihr Mann Michael kann den Verlust kaum ertragen, schon gar nicht im gemeinsamen Haus in Wales. In London hofft er sich ablenken und weiter an seinem aktuellen Buch arbeiten zu können. Seine neuen Nachbarn, Josh und Samantha mit den Töchtern Rachel und Lucy, schließen schnell mit ihm Freundschaft und kümmern sich um ihn in seiner Phase des Trauerns. Er wird zum fünften Familienmitglied und bewegt sich frei in ihrem Haus. Eines Nachmittags will er nur schnell einen Schraubenzieher abholen, den er Josh geliehen hatte. Seltsamerweise steht die Hintertür offen. Ein ungutes Gefühl zieht Michael in das Obergeschoss des scheinbar leeren Hauses. Ein Geräusch lässt ihn erst erschrecken und löst dann eine unheilvolle Kette von Ereignissen aus. Auf der anderen Seite des Atlantiks hadert ebenfalls ein Mann mit dem Schicksal und am Ende stehen gleich drei Männer vor der Frage, wie sie mit der Schuld, die sie auf sich geladen haben, leben sollen.

Owen Sheers schafft es, den Leser zu fesseln und wirft ihn immer wieder neue Spuren und unerwartete Wendungen hin, die den Roman unzählige Male in eine völlig andere Richtung lenken. Seine Rahmenhandlung wird durch die Ereignisse des einen, unheilvollen Nachmittags im Juni bestimmt. In Zeitlupe bewegt sich Michael im Haus seiner Nachbarn, jeder Schritt wird unterbrochen von Erinnerungen an Caroline und die Erinnerungen eines anderen Mannes. Wenige Andeutungen lassen ahnen, was passieren wird, um dann die Katastrophe ein weiteres Mal zu verzögern. Auch der Ton wandelt sich, je nachdem wo wir uns befinden: im Haus herrscht äußerste Anspannung und die Nerven sind bis zum Zerreißen gespannt – dann wiederum sind wir mit Michael in der Trauer um seine Frau oder bei dem amerikanischen Soldaten und seinen Erinnerungen an den schlimmsten Tag seines Lebens. Hier wird der Ton ruhig und melancholisch nur um dann wieder an den neuen Tatort zurückzukehren. Das eigentliche Ereignis, auf das die Geschichte lange Zeit hinsteuert, ist dann doch ganz anders als erwartet und hat vor allem ungeahnte Folgen für die Zeit danach – hier kann Sheers sich wirklich von der Masse der Krimis absetzen. Mehr zu schreiben würde potenziellen Lesern nun den Spaß verderben, bleiben wir dabei: eine wirklich gute Idee auch hervorragend umgesetzt. Einzig das Ende fand ich einerseits recht knapp und zum anderen für das, was ihm vorher gelungen war, etwas zu dünn.


Als Roman kategorisiert kann der Text jedoch mit erstaunlich viel Spannung punkten und darüber hinaus auch ganz wichtige Fragen nach Schuld und Verantwortung aufreißen. Vieles kam für mich unerwartet – wirklich ein Buch, das in vielerlei Hinsicht überraschen kann. 

Mittwoch, 21. September 2016

Gerhard Falkner - Apollokalypse

Rezension, Roman, Deutscher Buchpreis

Georg Authenrieth erinnert sich. Soweit er das noch kann, denn vieles ist weg oder nur noch verschwommen da, manches ergibt auch wenig Sinn. Aber vielleicht sind das ja auch nicht seine Erinnerungen, sondern die seines Doppelgängers. Schließlich ist ohnehin alles nur Rekonstruktion. Die Kindheit in Nürnberg, die erste Liebe zu Isabel, das Leben im Berlin der 80er Jahre. Die zweite wichtige Frau, Billy, der Anschlag, der Geheimdienst, die Freunde, die Reisen in die USA und die DDR. Man muss das nehmen, was man hat und so macht es auch Georg oder Georg über den Menschen Georg Authenrieth, der vorgibt, er zu sein und es vielleicht sogar ist.

Gerhard Falkners Roman hat es 2016 auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft. Die Presse hat den Roman bejubelt: ein neues Kapitel der Berlin-Literatur (Süddeutsche), großartig (Deutschlandradio Kultur), fantastisch (Zeit), kunstvoll und komisch erzählt (LiteraturSpiegel). Ich habe mich auf jeder Seite gefragt: was soll das? Was will mir das sagen? Hä?

Ein Erzähler, der sich seiner Erinnerung nicht sicher ist – ok, keine ganz originelle Idee, aber kann man was draus machen. Diskontinuierliche, unchronologische Erzählung – kein Thema, man darf als Leser schon ein wenig gefordert werden. Episodenhafte Erzählungen, lose Verbindungen – auch das kann seinen Reiz haben. Aber hier war mir alles zu lose, zu unverbindlich, zu wenig greifbar. Phasenweise waren zwar Ansätze einer Erzählung vorhanden, diese wurden dann wiederum von absurden Spekulationen über das Sein abgelöst und der Erzähler springt von der ersten zur dritten Person. Wenn alles im Rahmen von Spekulation und Unverbindlichkeit bleibt, wozu dann noch ein Roman? Wenn selbst die Literatur sich nicht mehr in der fiktiven Welt festlegt, wer soll dies denn noch in der Realität tun? Ein Roman, der nichts sagen will, ist für mich letztlich egal und auch irrelevant.

Rechnet man die Idee einer inhaltlichen Aussage raus, könnte der Text immer noch durch seine Konstruktion und die Sprache punkten. Aber auch da erreicht er mich nicht. Insbesondere die Ergüsse im Bereich der Fäkalien sind einfach nur widerlich, die Wortwahl abstoßend und dezidierte Beobachtungen des Stuhlgangs sind für mich keine Kunst, sondern schlichtweg verzichtbar.


Irgendwer scheint den Roman verstanden zu haben, ich offenkundig nicht. 

Montag, 19. September 2016

Paul Beatty - The Sellout

Review, Novel, Man Booker Prize 2016

A man is in Washington, waiting for his trial before the Supreme Court. He has never done anything wrong so why is there a case of the United States of America vs. himself? The narrator has to go back to his childhood days when he, the son of a black psychologist, was his father’s prime study object. His isolated upbringing always against the background of racial hated has left its marks and when is father is shot and he is faced with the police’s lack of interest, he understands that he has to do something for Dickens, his hometown which has vanished from the maps, and for his father’s memoir. A fight for equality and to find out who is really is and who he wants to be starts.

Paul Beatty’s novel has been shortlisted for the Man Booker Prize 2016 and it is obvious why it has been nominated. At the end of two terms of a black president, the country has to raise the question if anything has changed in the last eight years. Considering the last months’ riots and street fights in many cities between the police and the black community, the answer might be “no” – or even: things are worse today. Thus, Beatty has chosen his topic well, it could not fit more to the current debate. But apart from its societal relevance, what does the novel have to offer?

First of all, the irony is just captivating. The best example for me is the search for a sister city when Juárez, Chernobyl and Kinshasa refuse to be linked to Dickens due to diverse reasons. You have to laugh until the laughter gets stuck to your throat because you understand what has been said about this black town in this scene. Its situation close to the LA metropolis is worse than the most violent city in Norther America, worse than the most polluted and dead place in Europe and worse than the poorest town in Africa. Is there anything to top this? Yes, of course there is – and that’s what makes this novel so outstanding. The narrator invents an upside-down version of segregation and has the white pupils expulsed from the local schools. This reminds you of something in history? Yes, but now things are different. Or not so different at all. The absurdity sharpens the observer’s view on the current state this small town is in.

At times, Beatty has his narrator reflect on what he is doing and what is happening and he comes to very sharp conclusions on why things are the way they are and why people just cannot act differently.  This sounds quite serious, that’s what it is at the end of the day, but Beatty found a unique style ignoring all taboos to bring across his message.


Sonntag, 18. September 2016

Megan Abbott - You will know me

review, novel

Devon is a gymnastics prodigy, one of the few who have the potential to make it to the magnificent few who can represent the USA at the Olympic games. It all started out with an accident when she was a small kid and lost some toes, this seemingly disadvantage turned out to be the beginning of a stunning career. And her parents Katie and Eric are doing everything for their talented daughter. Days, whole weekends spent at the gym, hiring the best coaches even if they can hardly afford it. They have a plan set up, a plan to follow to make the dream come true. But a couple of weeks before the most important tournament of Devon’s life, everything is at risk and suddenly Katie has to ask herself if she really knows her family anymore and how much she is poised to do for her daughter’s success.


 Megan Abbott’s novel is difficult to pigeonhole. On the one hand, we have the story about an ambitious girl (and her parents), who are ready to sacrifice their whole life for this one dream. You can see how much strong will can achieve and what it needs to be a sportsman or –woman of the top. On the other hand, we have a murder case, a case of disappointed feelings, of hatred and jealousy – the classic ingredients of a crime novel. And there’s the family story, a family close to breaking up and before the question: what glues us really together? A lot of things mixed up in an exciting plot. Some of the clues, however, are too obvious to see, so the twists and turns do not really come unexpectedly. Yet, for me, it was less the question of solving the murder case, but the development of the family structures which had most of the interest. This point is really strong in the novel, the relationships are not easy ones and they develop throughout the story in an authentic and convincing way. All in all, an entertaining novel which has to offer a lot for different kinds of readers. 

Fiston Mwanza Mujila - Tram 83

Roman, Rezension, Afrika, Kongo

Äquatorialafrika, es könnte Kongo sein, es könnte überall sein. Ein Ort namens Stadtland bildet die Kulisse für ein unglaubliches Schauspiel. Im „Tram 83“, eine Mischung aus Bar, Bordell und lokalem Handelsplatz für quasi alles, nahe des Bahnhofs gelegen, treffen sich allabendlich die Bewohner und die Touristen. Junge Mädchen, genannt Küken und kaum die Pubertät erreicht, bieten ihre Körper ebenso an wie erwachsene Frauen. Die Arbeiter der nahegelegenen Minen betrinken sich ebenso wie die Studenten. Ex-Kindersoldaten versuchen zu vergessen, ebenso wie die Verlierer des korrupten Staates. Unter ihnen auch Requiem, der sich mit Erpressung und zwielichtigen Geschäften ganz gut positionieren konnte. Lucien wiederum, erfolgloser Schriftsteller und Träumer, hat weniger Glück und die Tatsache, dass Requiem noch eine Rechnung mit ihm offen hat, wird es nicht leichter machen. Alle versuchen zu überleben in einem Land, das von regelmäßigen Stromausfällen, unsicherer politischer Lage und ausländischen Kräften geprägt wurde. Im Tram 83 verschwinden die Unterschiede jedoch manchmal, denn die Kellnerinnen schnauzen alle gleichermaßen an.

„Am Anfang war der Stein, und der Stein schuf den Besitz und der Besitz den Rausch“ – man sagt guter Literatur nach, dass sie im ersten Satz schon alles unterzubringen mag, was die danach folgenden Seiten beinhalten. Fiston Mwanza Mujila hat sehr viel seines Romans hineingepackt in diesen ersten Satz: die Steine der Diamantminen, eine schier unerschöpfliche Geldquelle – für wenige. Ursache von Korruption und Verderbtheit. Schuld nicht nur an unsäglicher Armut, sondern auch der Suche nach dem Rausch und der Flucht vor der Realität. Der Alltag in Afrika, den uns der Autor präsentiert und den er nicht an einen Ort oder ein Land bindet, ist für uns Europäer verschreckend. Nichts lässt mich jedoch daran zweifeln, dass das Leben vielerorts genauso ist, wie wir es in „Tram 83“ kennenlernen. Was sonst hören wir aus Afrika außer Korruption, Drogen- und Alkoholabhängigkeit, Prostitution schon von Minderjährigen, kriegswilde Generäle, tödliche Minen etc. Viel Hoffnung auf Besserung gibt uns auch dieses Buch nicht.

Was fasziniert jedoch so an diesem Roman, der dem Autor zahlreiche Preise eingebracht hat und in vielen Ländern von der Presse bejubelt wird? Wir haben keine Erzählung und Handlung, der ein Erzähler stringent folgt. Viel mehr folgt das Geschehen dem afrikanischen Rhythmus, wird unterbrochen, hat Wiederholungen, bestimmte Segmente tauchen regelmäßig auf. Wie im Jazz wird mal scheinbar improvisiert, dann geben wieder klare Regeln den Takt vor. Der Ton ist manchmal brutal laut, dann in einem fast heiteren Allegro bis hin zu einem leisen Piano, kulminierend in einem immer mehr Fahrt aufnehmenden Crescendo. Man muss sich in den ungewohnten Rhythmus einlesen, findet aber zunehmend Gefallen daran.


Ein afrikanischer Roman also – jein. Man merkt, dass Fiston Mwanza Mujila Europa und seine Kultur kennt. Die oben bereits zitierte Stelle, die jedem Christen sofort das Johannesevangelium in Gedächtnis ruft, deutet an, dass hier auch mit der Frage des Kolonialismus gespielt wird. Es kam kein Erlöser nach Afrika; die Europäer, denen man im Roman begegnet, sind reiche Touristen oder Nachfahren der Kolonialzeit, die in abgeschotteten Stadtvierteln unter sich bleiben. Nur zum Vergnügen kehren sie ins „Tram 83“ ein und mischen sich unter die Einheimischen. Abgelöst werden sie nach und nach von den Chinesen, die möglicherweise ein neues Zeitalter einläuten werden. Das muss auch Lucien merken, der seine Literatur nach Europa verkaufen will – aber dort hat man schon kein Interesse mehr an Afrika. Zu wenig exotisch ist es mittlerweile. Bleibt am Ende nur noch, sich ins Getümmel des Tram zu stürzen und sich zu vergnügen, denn der Morgen hat wenig zu bieten. 

Samstag, 17. September 2016

Ian McEwan - Nutshell

review, novel

Trudy is pregnant, but currently not living with the child’s father, John, but his uncle, Claude. The house they live in was one Trudy and John’s retreat and now worth millions since housing in London is expensive. Claude is into real estate and comes up with a plan: why not get rid of the unwanted father of the child and make money of the house? A plan is made, but John interferes when he suddenly shows up and asks Trudy to leave the house where he wants to create a new home for himself and his girlfriend Elodie. Quick action is needed and thus Trudy and Claude have to react fast. Just a couple of hours later, they seem to have reached their aim and nobody is there who could blame them. But what they don’t know is that somebody has been listening all the time…

Respect. Ian McEwan really succeeded in surprising me. One of my favourite authors of whom I have read many novels accomplished something I thought risky and did not expect much from: telling a story from an unborn baby’s point of view. But what do we get: a lot of fun with a narrator who is not only a lot cleverer than all the adults presented, but also a close observer and ironic commentator of what he hears and understands. In this special case, getting the story just form one perspective is a great plus since the baby is just hilarious. At points, however, the laughter gets stuck in your throat when, for example, the baby is longing for another glass of wine – something it is highly used to. In this way, McEwan does what we expect him to do: he knows exactly how to put the words so that there is a double meaning and the underlying message can hit you hard.

What I liked best about the novel were first of all the baby’s way of narrating what’s happening. A slightly naïve tone which nevertheless shows a lot on knowledge and understanding. Second, the presentation of the characters who are mainly characterized through their action and even though they are not really the sympathetic type of person and only seen through the baby’s eyes, the develop facets and become more and more complex in their feelings.


All in all, a quick read which connects a lively and lovable narrator with a murder plot.  

Evelyn Holst, York Pijahn - Oh Boy, Oh Girl! Eine Gebrauchsanleitung für Männer & Frauen

Rezension, Sachbuch

Oh Boy, Oh Girl! Männer sind anders und Frauen auch. Evelyn Holst und York Pijahn wagen einen Blick auf das Lieben und Zusammenleben der beiden Geschlechter. Sie packen ihr geballtes Alltagswissen und viele verfügbare Vorurteile in das Buch und nachdem beide perspektiven präsentiert sind, wird ein Experte zu Wort gebeten. So beginnen wir im Sandkasten, wandern über die Pubertät hin zu ersten Liebe und der ersten Trennung bis hin ins Erwachsenenalter, wo die üblichen Themen Shopping, Kosmetik, Haushalt, das Erwachsenwerden der Kinder und das eigene Altern unter die Lupe genommen werden.

Das Buch ist augenzwinkernd als „Gebrauchsanleitung“ betitelt und fernab der ernstgemeinten Ratgeber zum besseren Verständnis des anderen Geschlechts. Ganz im Gegenteil, hier werden munter Klischees bedient und amüsiert vorgetragen, die beiden Autoren nehmen sich gegenseitig aufs Korn und nähern sich dem Thema mit einer gehörigen Portion Humor. Entsprechend ist der Ton eher unterhaltsam plaudernd und lässt einem beim Leser mehr als einmal schmunzeln. Ebenso sind die Passagen, in denen Fachleute zu Wort kommen, gestaltet. Die Interviews sind nicht bierernst, sondern schließen nahtlos an das zuvor gesagte an und können so den Stil nahtlos fortführen.


Wer große Enthüllungen erwartet, wird sicherlich enttäuscht sein. Inhaltlich können die Autoren nicht wirklich mit neuen Erkenntnissen aufwarten. Auch kratzen die Expertenmeinungen nur an der Oberfläche. Nimmt man das Buch als nette Lektüre zur Amüsement – gerne auch als gemeinsame Lektüre mit dem Partner – bietet es unterhaltsame Lesestunden. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Freitag, 16. September 2016

Henning Mankell - Die schwedischen Gummistiefel

Rezension, Roman

Fredrik Welin lebt alleine auf einer kleinen Schäreninsel. Der 70-Jährige hat nur wenig Kontakt, der Postbote kommt regelmäßig vorbei, an Land tätigt er seine Besorgungen und untersucht gelegentlich die Nachbarn. Als sein Haus nachts niederbrennt, verliert er alles, nichts bleibt ihm mehr, nicht einmal ein paar Gummistiefel. Nachdem die Spurensuche vergeblich verläuft, verdächtigt ihn sogar die Polizei, da kommt es ihm gerade recht, dass seine Tochter im fernen Paris seine Hilfe braucht.

Henning Mankells letzter Roman ist kein Krimi, wofür er in Deutschland so bekannt ist. Es ist ein Abschied, Abschied vom Schreiben, Abschied vom Leben. Aus jeder Zeile spricht das nahende Ende – nicht nur, weil der erzählende Protagonist selbst schon im vorgerückten Alter ist und der Tatsache ins Auge sehen muss, dass sein Dasein sich langsam dem Ende zuneigt. Auch die alten Bekannten des Erzählers werden nach und nach weniger, ein schwacher Trost ist es ihm, dass junge nachrücken, seine Tochter Mutter wird. Das Leben wird auch in den letzten Jahren nicht einfacher, Beziehungen bleiben so kompliziert, wie sie es immer waren, aber die Erinnerungen sind mehr und ebenso das Gefühl von Verlust, vieles ist bereits vergangen und kommt nicht mehr. Aber man kann vergeben und nicht mehr alles in menschliche Hände legen, worüber zu urteilen ist.


Ein melancholisches, tieftrauriges Buch. In gemäßigtem Ton nimmt es dem Leser die Hektik des Alltags, es verweigert sich der modernen Schnelllebigkeit und entschleunigt. Passender können Schreibstil und Inhalt kaum zueinander passen. Vermutlich kann dieser Text auch nur entstehen, wenn der Schriftsteller sich in einer bestimmten Fassung und Gefühlslage befindet. Für mich ein Abschiedsbrief eines geschätzten Autors.

James Patterson - Chase [BookShot]

Rezension, Krimi, BookShot

Ein Mann, zwei Verfolger. Er scheint die Oberhand zu behalten, doch nur kurze Zeit und er fällt vom Dach eines New Yorker Hotels und ist tot.  Mike Bennett muss den fall untersuchen, der zunächst wie ein Selbstmord aussieht. Doch die fehlende Identität, das leer Hotelzimmer und schließlich ein mysteriöser Fund in seinem Magen erhärten den Verdacht auf Mord. Nur: der Mann ist schon einmal gestorben, bei einer Geheimaktion im Irak kam er ums Leben. Mike Bennett muss wohl oder übel nach Washington und hoffen, dass die die Armee kooperiert, was natürlich nicht der Fall ist. Eine geheimnisvolle Nachricht führt ihn auf die Spur der Täter und bringt ihn in Lebensgefahr.


Der dritte BookShot von James Patterson kann leider nicht mit den anderen mithalten. Zum einen weil konstruierte Zufälle und nicht saubere Nachforschungen den Detective voranbringen. Kommissar Zufall mag ich schlichtweg nicht, da wird vieles zu beliebig. Zum anderen haben wir es hier weniger mit einem Krimi im klassischen Sinne zu tun, sondern eher mit einer Militär-Kriegs-Thematik, die mich nur sehr bedingt ansprechen kann. Denke und Verhalten der Armeeführung sind mir fremd und können mich auch in Romanen nur selten begeistern, somit war thematisch hier leider vieles verloren. Zudem befindet sich die Handlung im letzten Drittel fast nur noch im Schieß- und Draufschlagmodus, das mag im Medium Film gut und unterhaltsam sein, in Bücher ist es eher weniger spannend. Zwar wird der Fall gelöst und auch durchaus glaubwürdig motiviert, aber letztlich fällt das Fazit eher verhalten aus. 

Michael Kumpfmüller - Die Erziehung des Mannes

Rezension, Roman, Deutscher Buchpreis

Der Erzähler ist gerade dabei sich von seiner langjährigen Freundin zu trennen, schon seit einiger Zeit verbindet sie nichts mehr und als ihm Julika begegnet, ist das Ende besiegelt. Mit ihr wird er ein Leben beginnen, das leider nicht hält, was er erwartet hatte. Kinder bekommen sie, aber keine gute Ehe ist möglich, zu verschieden sind sie, zu jähzornig und hasserfüllt seine Frau. Eine Trennung, ein Kampf. Über Jahre finden sie keine Ruhe und er kann in der neuen Beziehung mit Sonja nicht frei sein. Auch seine Eltern führten schon keine glückliche Ehe, wiederholt sich vieles einfach? Wie wird das Liebesleben seiner Kinder aussehen, erkennt er nicht dieselben Strukturen und Fehler, die sein Leben bestimmten. Am Ende taucht eine Frau wieder auf, die im Jahrzehnte zuvor schon einmal gezeigt hat, was Liebe sein kann. Damit schließt sich der Kreis und seine Erziehung durch all die Frauen ist abgeschlossen.

Zugegebenermaßen hätte mich das Buch nicht wirklich zum Lesen verlockt. Der Titel mutet seltsam an, ans das Labyrinth des Covers hätte mich auch nicht unbedingt angesprochen und ein Buch über die verschiedenen Liebschaften eines Mannes klang zunächst auch nicht unbedingt überzeugend. Die Nominierung für den Deutschen Buchpreis 2016 hat mich jedoch zu dem Titel greifen lassen und unumwunden kann ich zugeben: glücklicherweise, denn dieser Roman wäre an mir vorbeigegangen.

Der Titel birgt eigentlich schon alles, was das Buch beinhaltet, aber möglicherweise sollte man ihn weniger pädagogisch, sondern vielleicht biologisch betrachten. Eine Pflanze wird gesät und wächst, ihre Umweltbedingungen nehmen Einfluss, mal versucht man ihr etwas Gutes zu tun, mal schadet man ihr eher. Was aus der kleinen Saat wird, ist jedoch nicht wirklich in der Hand des Gärtners und dass irgendwann ein Ende kommt, ist ebenfalls unvermeidlich. Der Erzähler wird aufs Leben losgelassen, durchaus behütet, wenn auch nicht immer unter Idealbedingungen, wird durch seine Beziehungen beeinflusst und doch wächst er daran auf seine eigene Weise, wird groß und stark und so wie eine Pflanze an ihrem Platz bleibt, bleibt bei sich und seiner Musik.

Das Cover verdeutlicht das, was mit ihm passiert: das Leben als Verwirrspiel, von dem man nicht genau weiß, ob man die richtige Abzweigung nimmt, oder sich doch eher verrennt, an manchen Stellen warten Frauen, denen er begegnet, die einen Bruch im Muster verursachen, doch es geht irgendwann weiter, bis er zu sich selbst findet.


Bleibt die letzte offene Frage: interessiert es mich als Leserin, wenn ein Mann über seine Beziehungen spricht? Michael Kumpfmüller ist es hier gelungen einen ansprechenden Ton zu finden, sein Protagonist berichtet mal wehmütig, mal eher analysierend, ebenso von schwierigen Gefühlslagen wie von harten Kämpfen. Die Frage ob Mann oder Frau ist deutlich weniger relevant als erwartet, denn schließlich handelt es sich um einen fühlenden Menschen, der mal enttäuscht wird, mal selbst enttäuscht, der sich stabile und dauerhafte Zweisamkeit wünscht, jedoch es passt etwas nicht und der Wunsch bleibt unerfüllt. Die Phasen seines Lebens werden durch die Frauen gegliedert und alle hatten letztlich ihren Anteil an seinem Leben und dem, was aus ihm geworden ist. Einen Grund zur Reue gibt es nicht, denn sonst wäre er nicht der, der er am Ende ist.

Dienstag, 13. September 2016

Hans Platzgumer - Am Rand

Roman, Rezension, Deutscher Buchpreis 2016

Gerold Ebner macht sich früh am Morgen auf in Richtung Gipfel des Bocksbergs. Er hat etwas zu erledigen, das will er alleine und in Ruhe tun. In Etappen geht es bergauf und in Etappen lässt er sein Leben Revue passieren. Zunächst seine Herkunft, die Mutter, die als Prostituierte arbeitet und nicht weiß, wer sein Vater ist. Sein Großvater, herrisch und bestimmend und dessen Tod eine Erleichterung für die gebeutelte Mutter ist. Seine Liebe zu Elena, die nie in einer Ehe oder richtigen Familie mündete. Und seine Freundschaften, die von der Kindheit bis in den Tod halten. Der Tod ist es auch, der den Takt und die Einschnitte bestimmt und der am Ende als letzter auf den Protagonisten noch wartet.

„Am Rand“ – für mich eher am Abgrund, ein Leben immer an der Grenze, kurz vor dem Absturz, nie wirklich in den ruhigen Fahrwassern in der Mitte. In gelassenem Ton lässt Platzgumer seinen Protagonisten erzählen, die äußere Chronologie ebenso wie die seines Daseins gliedern die Erzählung und so passt ein ganzes Leben in einen einzigen Tag. Auch der Gegenspieler des selbigen schlägt seine Pflöcke ein und sucht schon früh die Bekanntschaft mit dem Protagonisten, der sich die Frage stellen muss, ob es gerechtfertigte Tode gibt und ob man Mitschuld immer als etwas Negatives sehen muss – kann dies nicht auch Befreiung sein? Die Mutter befreit er von dem übermächtigen Großvater, den Freund vom aussichtslosen Leiden, die Geliebte von der unerfüllten Mutterschaft und sich selbst? Es ist absehbar, worauf die Handlung von der ersten Seite an hinsteuert, es bleibt die Frage nach dem Warum, die gleich mehrfach beantwortet wird und sich am Ende umformuliert in die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Lebens und der Menge an Kraft, die es lohnt aufzubringen – oder eben nicht.

Hans Platzgumer wurde für seinen Roman mit der Nominierung auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2016 honoriert. Thematisch reißt er die ureigenen Fragen nach dem Dasein des Menschen und dem Sinn des Lebens auf – allemal eine Nominierung wert. Interessant ist die Deutung der Frage nach der Schuld; der Autor wagt es die üblichen Wege in schwarz-weiß zu verlassen und stimmt der Leser mit seinem Protagonisten ein, macht er sich womöglich mitschuldig. Gibt es einen gerechtfertigten Mord? Dürften oder sollten wir ihn dann überhaupt Mord nennen? Trotz der Schwere und Bedeutung der Thematik liest sich der Roman jedoch recht eingängig und nur leicht melancholisch, wir dürfen uns den angerissenen Fragen stellen, werden aber nicht von diesen erschlagen, was ein wahrhaftiges Kunststück ist.


Montag, 12. September 2016

Gustaaf Peek - Göttin und Held

Rezension, Roman, Niederlande

Eine Frau ist gestorben, nur eine kleine Gemeinde nimmt Abschied. Tessa ist tot. Doch der Blick geht zurück auf das Leben, das dem Tod vorausging. Ihre Liebe zu Marius. War es Liebe oder doch mehr ein unbändiges Verlangen? Hat er sie verehrt oder nur begehrt? Immer wieder in ihrem Leben sind sie sich begegnet, er, der Journalist, und sie, die Autorin. Doch sie hatten auch andere Partner, Tessa sogar einen Sohn, aber diese konnten nicht die Verbindung zwischen beiden zerschneiden, eine Liebe oder eher eine Leidenschaft, die schon ganz früh begonnen und im Laufe ihrer beiden Leben unterschiedliche Formen angenommen hat.

Gustaaf Peeks Roman irritiert den Leser zunächst, beginnt er mit dem Tod der Protagonistin. Auch der männliche Hauptcharakter findet schon bald ein eher unschönes Dahinscheiden. Die umgekehrte Chronologie ist gewöhnungsbedürftig und ich bin mir nicht sicher, ob sie der Geschichte zuträglich ist. Manche Figuren tauchen erst spät im Leben Tessas auf und verschwinden daher, wenn man von der Zeit davor erfährt. Manches bleibt diffus, wie ihre Beziehung zu Paul, um die es zwar nur peripher geht, die aber durchaus interessant hätte sein können. Alles dreht sich immer wieder um Tessas und Marius‘ Beziehung, die unterschiedliche Formen annimmt und in unzählige Varianten erzählt wird. Überrascht hat mich die Deutlichkeit und Explizitheit mit der Peek die Begegnungen der beiden schildert, bisweilen fand ich die explizite Wortwahl etwas verstörend, aber vielleicht passt genau dies zu den beiden Figuren und ihrer Liebe: sie ist oftmals nicht romantisch-verspielt, sondern animalisch und von der Lust geleitet. Sie entdecken nicht die Tiefen ihrer Seelen, sondern die Spielarten ihrer Körper. Die Chronologie der Ereignisse wird umgekehrt und so kann man vom Niedergang zum Anfang der Beziehung, zum ersten scheuen Blick, der endlos viele Möglichkeiten eröffnet, eine ungewöhnliche Reise antreten.


Für mich ein nicht einfach zu fassender Roman. Gewagt die Erzählweise, die viel vom Leser verlangt und sicher aufgrund der ungewöhnlichen Art im Gedächtnis bleibt. Die Ausdrucksweise für meinen Geschmack mutig und oftmals nah am Obszönen. Die Liebe der beiden Protagonisten unkonventionell, denn nicht die Seelenverwandtschaft, die häufig in der Literatur ihren Platz findet, sondern die physische Anziehung bestimmt den Takt. Auf vielerlei Ebenen ein etwas anderer Roman. 

Herzlichen Dank an das Bloggerportal für das Rezensionsexemplar. Mehr Informationen zum Titel finden sich auf der Seite der Verlagsgruppe Random House.

Sonntag, 11. September 2016

Dagmar Leupold - Die Witwen

Rezension, Roman, Deutscher Buchpreis

Ein beschauliches Winzerdorf an der Mosel. Zuerst hat es Penny dorthin verschlagen, eines Mannes wegen, der später einfach verschwinden würde. Ihre Freundinnen aus Kindheitstagen sind ihr aus dem fernen Berlin gefolgt, Beatrice, Dodo und Laura haben sich in der Provinz ein neues Leben aufgebaut. Alle vier sind ohne Mann, aber noch lange keine Witwen. Das Leben geht tagein tagaus seinen Lauf ohne große Überraschungen. Da muss noch etwas geschehen – eine Reise ist die Idee. Und dazu muss ein Chauffeur her. In dem jungen Benedix finden die vier Frauen einen Begleiter für ihre Fahrt, deren Ziel noch unbekannt ist.  

Auch den vier Witwen kam die Ehre zu, auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2016 zu stehen. Für mich das vierte der nominierten Bücher und im Vergleich zu den drei vorherigen eine positive Überraschung. Angenehm flüssig liest sich der Roman, die Dialoge sind glaubwürdig, die Sprache nicht gerad poetisch, aber genau passend zu den Figuren, dem Ambiente und der Geschichte. Alles wirkt einfach rund und stimmig und wird dadurch zu einer vergnüglichen Lektüre. Die vier Frauenfiguren ebenso wie der einzige Mann sind liebevoll mit kleinen Details entwickelt, auch wenn ich einige Zeit brauchte, sie wirklich auseinanderhalten zu können.


Interessant machen den Roman jedoch weniger die präsentierten Charaktere, auch die Handlung der Reise – die tatsächlich nicht sehr weit führt und eher beschauliche Zwischenstopps als große Orte zu bieten hat – ist nicht das, was diesen Roman literarisch attraktiv gestaltet. Es ist letztlich der Rückgriff auf ein bekanntes Muster, das man länger nicht gelesen hat: Die Pilgerreise, auf der ganz klassisch die Figuren nacheinander eine Geschichte erzählen. Hier jeweils etwas, das die Freundinnen trotz der jahrelangen Verbundenheit nicht wussten, etwas ganz Persönliches, ein tiefer Blick in das Innerste der Freundin. Dieses alte Muster wird in neuem Gewand dargeboten und lässt sich doch leicht erkennen. Auch werden hier nicht bekannte Wege beschritten, es sind auch nicht fromme Gedanken, die die Wanderinnen leiten – aber sie suchen doch nach Sinn in ihrem Leben und finden am Ende sogar ein Ziel. 

Miroslav Nemec - Die Toten von der Falkneralm

Roman, Krimi, Rezension

Miroslav Nemec einmal nicht in der Rolle als Tatort Kommissar Batic, sondern als Schauspieler, der auf der Falkneralm an einem „Mörderischen Wochenende“ auftritt und dort aus einem Roman Mankells vorlesen soll. Doch seine Rolle entwickelt sich etwas anders als geplant: erst sorgt ein Sturm für Aufregung, viele Gäste schaffen es nicht mehr hoch auf die Alm, wo man derweil von der Außenwelt abgeschnitten ist. Nachdem seine Frau den bekannten Schauspieler gerade noch sehr zu seinem Missfallen angehimmelt hat, wird einer der Gäste tot im Swimmingpool gefunden. Ein Unfall wie es scheint. Gerade hat sich die Aufregung etwas gelegt, ist schon der zweite Tote zu beklagen: zwei Ziegeln, offenbar durch den Sturm vom Dach gerissen, müssen ihn tödlich getroffen haben. Der Schauspieler rückt mehr und mehr in die Rolle des Ermittlers, unterstützt von einem ehemaligen Polizisten, der jedoch selbst auch mal die Seiten wechselt und zum dritten Todesfall in nur wenigen Stunden wird. So viel Zufall kann nicht sein und ein Mann, den ohnehin alle für einen Kommissar halten, muss die Figur mimen, die von ihm erwartet wird.

Mit „Mein erster Fall“ untertitelt der Neu-Autor sein schriftstellerisches Debüt. Dieses Augenzwinkern schon auf der ersten Seite behält er bei und macht sich gar nicht erst die Mühe, einen Erzähler zu kreieren, sondern schildert die Handlung gleich aus seiner (fiktiven) Perspektive. So entsteht ein Plauderton, der wenig von einer klassischen Erzählung hat, sondern irgendwie eher an ein lockeres Gespräch beim Abendessen oder Bier erinnert. Bisweilen hat man den Eindruck, Nemec stehe auf der Bühne und wolle sein Publikum unterhalten, die etwas unlustig geratenen Witze sind hier das Indiz und sie wären sehr verzichtbar gewesen. Die Anmerkungen zum Dasein als Schauspieler und den nicht immer noch angenehmen Nebeneffekten eine bekannte Rolle im Fernsehen zu spielen, verleihen dem Roman zwar eine persönliche Note, die ihn sicher von anderen unterscheiden, lenken jedoch auch immer wieder von der Krimihandlung ab. Der Fall selbst ist angemessen spannend für einen typischen Regionalkrimi, insgesamt weitgehend logisch und glaubwürdig, jedoch auch nur mäßig kreativ, es werden doch auffällig viele Krimiversatzstücke bemüht.


Alles in allem, durchaus gut und unterhaltsam lesbar, durch die Wahl der Perspektive sicherlich ein außergewöhnliches Buch, als Krimi jedoch nur Durchschnitt. 

Samstag, 10. September 2016

Karl Olsberg - Mirror

Rezension, Thriller, Roman

Der Mirror ist Dein bester Freund. Er kennt Dich besser, als Du Dich selbst. Also hab Vertrauen, denn er will nur das Beste für Dich. Andy erkennt dies schnell, das größte Problem für den Autisten ist der soziale Umgang mit Menschen, er kann Gesichter nicht lesen und Gefühle schwer verstehen, doch der Mirror kann ihm helfen, diese Distanz zu überwinden und schnell schon bringt er ihn sogar mit einem Mädchen zusammen, Viktoria, die ihn trotz seines Handicaps mag. Auch Jack erkennt den Nutzen des Geräts, hat es ihm doch gerade dabei geholfen, innerhalb weniger Tage seine hohen Schulden bei seinem Dealer erfolgreich zu begleichen und dessen Beißhunde in die Flucht zu schlagen. Auch Lukas will nicht mehr ohne ihn leben, zwar konnte er die Trennung von Ellen nicht verhindern, aber dafür hat er ja jetzt eine neue Freundin. Auch Carl Poulsen, Erfinder des Mirrors und Firmenchef, erlebt, dass sein kleines Wunderwerk funktioniert als dieses eigenständig den Notarzt verständigt, um seinen Vater zu retten. Die Welt ist so viel besser dank der neuen Möglichkeiten. Warum wollen also kleine, renitente Figuren wie die Journalistin Freya dagegen ankämpfen? Das System will nur das Beste für alle und wer das nicht will, muss ja logischerweise ein Feind sein, den man mit allen Mitteln bekämpfen muss.

Ein gar nicht so fernes Zukunftsszenario eröffnet die Mirrorwelt vor uns. Technik, die uns immer mehr abnimmt, Defizite ausgleichen kann und gar schon über teile unseres Lebens die Kontrolle übernimmt. Immer mehr sind wir bereit fremdsteuern zu lassen, im Vertrauen auf Algorithmen, die schon wissen werden, was sie tun. Karl Olsberg führt dies nur einen einzigen Schritt weiter und genau das macht das Szenario so unglaublich authentisch. Alle Funktionen sind nachvollziehbar und erscheinen schon bald realisierbar. Auch die Reaktionen der Figuren auf die technischen Neuerungen sind glaubwürdig und es erfordert nicht viel Phantasie, dass die fiktive Handlung schon bald sehr real sein könnte. Insbesondere die gewaltige Reaktion aus Verlustangst am Ende lässt sich heute schon mit Entzugserscheinungen bei Handyentzug erkennen.


Das Thema ist brandaktuell, die mit dem Buch verbundene Message liegt auf der Hand. Kurze Kapitel, schnelle Sprünge zwischen den unterschiedlichen Figuren und Handlungen schaffen ein hohes Tempo, was gut zur aufgeregten, temporeichen und im Dauer-multi-tasking-Modus befindlichen Internetwelt passt. Die Tatsache, dass vieles nah an der Realität bleibt, veranschaulicht, wie schnell aus nützlichen Assistenten Gefahren werden können und dass wir mit unserem eigenen Verhalten maßgeblich bestimmen, inwieweit wir Kontrolle abgeben möchten. Damit gelingt Karl Olsberg eine überzeugende Verbindung von spannender Unterhaltung und echter Relevanz. 

James Patterson - The Trial

review, crime, novel, Women's Murder Club

Another legendary Women’s Murder Club meeting is disturbed: drug cartel boss Kingfisher has risen from the dead and caused a shooting in a night club. Detective Lindsay Boxer rushes to the crime scene and finds the man who tormented her for months arrested.  Yet, the police have to set up the case quickly, before the FBI can take over. But the witnesses are scared, nobody has seen anything. An anonymous video brings relief. But shortly before the trial can start, the prosecutor is murdered. Kingfisher and his men will do everything to prevent the case from taking place and whoever gets in their way has to fear for his life.


Another quick read from the bookshots series. The characters from the Women’s Murder Club series are quickly introduced at the beginning and their relationship is explained. However, in my opinion, this bookshot can easily be read without knowing anything about the series, it is only loosely linked and it is mainly Lindsay starring. Due to the limited number of pages, the plot moves at a high pace and renounces any side plots.  I like the focus on just one story and a straight way from the beginning to the end.  There are some interesting twists and some surprise at the end, but not too much suspense this time. Nevertheless, I enjoyed reading it and it fulfilled my expectations.

Freitag, 9. September 2016

Bodo Kirchhoff - Widerfahrnis

Rezension, Roman, Novelle, Deutscher Buchpreis

Zwei Menschen, Julius Reither und Leonie Palm. Beide mit großen Unternehmungen – einem Verlag und einem Hutgeschäft – gescheitert. Und nun hat das Schicksal sie zusammengeführt, um auf eine gemeinsame Reise zu gehen. Nach Sizilien brechen sie auf, mit im Gepäck ein Buch, das ohne Titel verlegt wurde und dessen Einband nur den Namen der Autorin zeigt: Leonie Palm. Sie scheinen beide schon alles gesehen und erlebt zu haben und sind doch nicht auf das vorbereitet, was ihnen auf der Reise widerfährt. Eine Reise, die ungeahnte Gefühle weckt und eine lange Suche zu einem gemeinsamen Ziel führt.

Bodo Kirchhoffs Novelle ist eins von zwanzig Büchern der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2016. Waren die beiden, die ich bisher von der Liste gelesen habe, eher sperrig und schwer zugänglich, Bücher, die nicht durch ihre Geschichte, sondern durch ihre Konstruktion überzeugen konnten, finde ich bei Kirchhoff nun zur erfreulichen Abwechslung den Inhalt das stärkere Moment. Seine beiden Protagonisten tragen die Geschichte und weben langsam ihre Verbindung. Mal schneller Mal langsamer nähern sie sich an einander an und blicken auf das, was war und das, was möglicherweise sein könnte. Der ganzen Handlung unterliegt eine leichte Melancholie, die den Leser in eine sehr eigene Stimmung taucht.


Besonders gelungen sind die Einwürfe und Einlassungen des Erzählers, der gelegentlich seine zugedachte Rolle verlässt und zeigt, dass Ausbrüche immer möglich sind und nicht so bleiben muss, wie es ist. Der zunächst seltsam anmutende Titel „Widerfahrnis“, der das Wiederfahren wie auch das Fahren vereint, passt am Ende auch ganz wunderbar zu der Novelle.

Mittwoch, 7. September 2016

Teddy Wayne - Loner

Review, novel

David Federman has always been ahead of his classmates. Quite logically his nature-given gifts lead him to Harvard where he is supposed to start a completely new life. He finds people there who were outsiders like him, amongst them Sara with whom he starts his first real relationship. But it is Sara’s roommate Veronica Wells for whom he really falls. He offers help for her essays and thus manages to spend more and more time with her and even the IT crowd. The only thing which seems difficult for him to understand is the fact that Veronica does not share the same feelings – and what he does not suspect at all is that there are people out there who do not hesitate to use and exploits others. Apart from the academic learning, David will also learn something for life in his freshman year.

David is the typical outsider – outstanding in his intellectual abilities he has difficulties in socialising with others and in finding peer who share the same ideas and interests. The way he is presented is almost a bit too stereotypical to be authentic. However, as the story moves on we get away from those platitudes and the character becomes more lively and complex. What is convincing is his disability in social affairs and his problems in understanding human behaviour. As good as he is in interpreting literature, as weak he is in interpersonal understanding. Quite unexpectedly, the author has some twists and turns to offer and especially the end comes quite out of nowhere and can surprise.


All in all, a rather atypical coming-of-age novel in a classic Harvard setting.

Montag, 5. September 2016

P.B. Gronda - Straus Park

Rezension, Roman, Kunstgeschichte, New York

Amos Grossman, reicher jüdischer Erbe, wandelt suchend in New York. Nur das Haus seiner Familie am Straus Park ist eine Konstante, ansonsten definiert er sich über die Frauen in seinem Leben: Farren, seine erste große Liebe, die nun alleine die Tochter Victoria erzieht; Alison, die Maklerin, die in plötzlich so unheimlich faszinierte; Julie, die junge Engländerin, die sich für die Kunstschätze in Privatbesitz interessiert. Man wundert sich, weshalb weltgewandte und intelligente Mann so einsam zu sein scheint und seinen Platz im Leben sucht, entstammt er doch einer angesehenen Familie mit zahlreichen Verbindungen, die ihm alle Möglichkeiten eröffnet hätten. Die Ursache liegt viele Jahrzehnte zurück in Europa. Amos hat ein gut gehütetes Geheimnis entdeckt, das nach all den Jahren endlich ans Licht zu kommen scheint.

Paul Baeten Grondas Roman ist vielschichtig und entfaltet sich nur langsam. Zunächst liegt der Fokus auf dem Protagonisten Amos, dessen Charakter komplex und schwer verständlich scheint. Zu Zeiten des Studiums verwöhnter Spross, der sorglos mit dem Geld seiner Familie umgeht. Ebenso sorglos geht er Beziehungen ein. Dann setzt eine Starre ein, die vermeintlich vom Tod der Eltern ausgelöst wird, bevor eine junge Frau ihn wieder zum Leben und zur Aktivität erweckt. Die Gründe kann man noch nicht nachvollziehen, denn zunächst erscheint ein Bruch in der Handlung. Zwei Generationen zuvor, im Nazi-beherrschten Europa kämpfen seine Großeltern ums Überleben. Eine fast typisch jüdische Geschichte, meint man. Erst im letzten Drittel des Romans überlagern sich die beiden Geschichten aus Vergangenheit und Gegenwart und liefern Erklärungen.

Es geht nicht so sehr um die durchaus auch spannende Frage des Warums (Amos so ist wie er ist, seine Familie zu dem Reichtum kam etc.), sondern mehr um das, was alternativ hätte sein können. Wie hätte die Geschichte der einzelnen Figuren auch laufen können: das Schicksal der Großeltern Amos‘ hätte ein anderes sein können; Farrens Leben statt mit Amos hätte mit seinem Freund ganz anders verlaufen können; Amos und Julie hätten vielleicht eine Zukunft haben können. Wenn nicht seine Großmutter die Entscheidungen getroffen hätte, die sie getroffen hat und mit denen sie auf sich und auf die nachfolgenden Generationen Schuld geladen hat. Doch waren diese Entscheidungen nicht zwingend im historischen Kontext? P.B. Gronda stellt die ultimative Frage, wieviel von den Generationen vor uns in uns selbst steckt und wieviel unser Dasein durch sie bestimmt ist.


Auch wenn es zu gelegentlichen Exzessen im Roman kommt, dennoch eine ruhige, leise Geschichte, durch die man nicht hastet, sondern langsam schreitet, immer wieder innehält, staunt und nachdenkt. Für mich nicht der größte Roman über die jüdische Geschichte in der Nazi-Zeit und die Frage nach Schuld und Verrat – aber ganz sicher einer der kleinen Schätze, der durch die unaufgeregte Erzählweise und das fast unauffällige Auftreten ganz groß wirken kann, wenn man ihn lässt.

Herzlichen Dank an das Bloggerportal für das Rezensionsexemplar. Mehr Informationen zum Titel finden sich auf der Seite der Verlagsgruppe Random House.

Sonntag, 4. September 2016

Anne Berest - Emilienne oder die Suche nach der perfekten Frau

Rezension, Roman

Emilienne arbeitet als Fotografin und kann so mehr schlecht als recht ihren Lebensunterhalt finanzieren. Die Teilnahme an einem großen Wettbewerb soll dies ändern, Thema ist die perfekte Frau. Sie selbst ist weit davon entfernt eine solche zu sein: aus unkonventionellem Künstlerelternhaus viel zu früh schwanger geworden, inzwischen geschieden, kein reguläres Einkommen, unsteter Lebenswandel, der ihren jugendlichen Sohn bisweilen erwachsener erscheinen lässt als sie. Ihr erstes Motiv soll ihre Nachbarin sein, Julie, erfolgreiche Karrierefrau und seit Kurzem Mutter. Doch diese offenbart sich gerade an den hohen Ansprüchen, die sie an sich selbst stellt, gnadenlos zu scheitern und nur in einer Psychiatrie Ruhe vor den Erwartungen der Welt finden zu können. Julie führt sie allerdings zu der ihrer Meinung nach perfekten Frau: Marie. Jedoch auch diese kann den gesellschaftlichen Konventionen nicht genügen. So führt Emiliennes Weg von einer Frau zur nächsten – jede auf ihre Weise perfekt, aber den eigenen Ansprüchen nicht genügend.

Anne Berest ist keine Unbekannte im literarischen Frankreich. Einem breiten Publikum ist sie mit „How to be Parisian wherever you are“ bekannt geworden, auch ihre Biographie über Françoise Sagan wurde beachtet. Frauen sind ihr Thema, nun die Suche nach der perfekten Frau – mit einem Augenzwinkern kann man nach den vorangegangenen Büchern zur Kenntnis nehmen, dass diese in Frankreich bzw. Paris gesucht wird. Auch wenn dem Buch durchaus dank der Protagonistin eine Menge Humor und Situationskomik innewohnt, hat Anne Berest einmal wieder dem Leser eine gesellschaftlich relevante Frage untergeschoben, die scheinbar nebenbei daherkommt: die Erwartungen an die Frau von heute.

Alle weiblichen Figuren im Roman negieren für sich das Adjektiv „perfekt“ aus unterschiedlichen Gründen: Julie wird ihrer Rolle als perfekte Mutter nicht gerecht (sie scheiterte schon an der natürlichen Geburt); Marie ist nicht die treusorgende Gattin, die nur Augen für ihren Mann hat, selbst als dieser tot ist; Jenanes wunderschönes Gesicht wird ihr zum Verhängnis und ihr Körper missbraucht – auch Attraktivität kann Hass auslösen; Zahia wird verurteilt für das, was andere mit ihr getan haben, nicht der Freier, sondern die Prostituierte wird verachtet. Alle Frauen haben für sich ein Bild von Perfektion entwickelt, dem sie nicht standhalten können. Keine der Erwartungen ist absurd überhöht, sondern einfach nur das, was in Zeitschriften, Fernsehen und sozialen Medien propagiert wird: Die junge, attraktive Frau, die neben der perfekten Optik auch die Intelligenz und den Biss mitbringt, beruflich erfolgreich zu sein. Daneben schmeißt sie locker den Haushalt und erzieht auch noch die Wunderkinder.

Die Frage, weshalb sich Frauen diesem Druck unterwerfen, einem unerreichbaren Ideal hinterher zu eilen, wird nebenbei thematisiert; eine Antwort findet auch Anne Berest nicht. Sie lässt eine Psychologin spekulieren, doch deren Ansätze fand ich etwas unbefriedigend: wollen Frauen wirklich wie Männer sein bzw. genau das eine im Leben sein, was ihnen durch die Natur endgültig verwehrt ist? Zumindest mag ein Aspekt daran sinnvoll sein: sich vor Augen führen, dass manches Ideal absurd und unerreichbar ist, so dass es sinnhaft sein kann, einen anderen Maßstab anzulegen und ein neues Ideal zu definieren.


Auch wenn hier ein ur-feministisches Thema aufgegriffen wird, fällt der Roman für mich nicht zwingend in diese Kategorie. Man kann ihn sicherlich so lesen, der leichte Ton nimmt jedoch etwas an Schärfe und geht das Thema eher humorvoll als ernst an. Dies ist ganz sicher die größte Stärke von Anne Berest als Autorin: Sie nähert sich leichten Fußes, um dann den Finger in die Wunde zu legen.

Herzlichen Dank an das Bloggerportal für das Rezensionsexemplar. Mehr Informationen zum Titel finden sich auf der Seite der Verlagsgruppe Random House.

Anna Weidenholzer - Weshalb die Herren Seesterne tragen

Rezension, Roman, Deutscher Buchpreis 2016

Karl Hellmann begibt sich auf Forschungsreise. Mit seiner Frau Margit hat er das Setting der Untersuchung genauestens studiert: ein Fragebogen, den man im fernen Bhutan verwendet, um das „Bruttonationalglück“ verwendet, wurde leicht modifiziert und in qualifizierten Gesprächen sollen nun Deutsche – systematisch durch willkürliches Aufblättern des Telefonbuchs ausgewählt – befragt werden. In einem namenlosen Ort lässt Karl sich im Hotel Post nieder, wo zunächst außer ihm keine Gäste logieren und er sich auch von dem herabgekommenen Zimmer nicht abschrecken lässt. Die Wirtin wird seine Probandin F1, doch schon gleich das erste Interview läuft aus den Rudern und Karl ahnt, dass das Unterfangen schwieriger werden könnte als gedacht.

Anna Weidenholzers Roman steht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2016, was für mich Anreiz zum Lesen des Romans war. Die Grundzüge des Plots finde ich auch durchaus attraktiv: die Suche nach dem Glück, bzw. dem, was den durchschnittlichen Menschen glücklich macht, das Auffinden der Bewohner eines x-beliebigen Ortes in ihrem Alltag. Doch leider kann mich der Roman an keiner Stelle wirklich packen.

Dies mag zum einen an der Erzählperspektive liegen, die Autorin hat sich für einen Stream of Consciousness rein aus der Perspektive des Protagonisten Karls entschieden. Hat eine solche Figur ausgesprochen unsympathische Züge – hier: Arroganz, Dummheit, gleichzeitig Abhängigkeit von einer abwesenden Person, Naivität und fehlende Zielgerichtetheit – wird das Lesen immer etwas quälend und eintönig. Es fehlen die Facetten und Nuancen, weil ungefiltert nur eine einzige Sicht auf die Dinge geschildert wird. Dies gelingt der Autorin, Karl als Figur ist in sich glaubwürdig und konsistent, nur leider schwer zu ertragen.

Das Setting hätte Begegnungen mit unterschiedlichen anderen Figuren ermöglicht, die ihrerseits interessante Ansichten hätten hervorbringen und so ein buntes und vielschichtiges Bild entstehen lassen können. Durchaus stimmig im Kontext der Figur Karl gelingt es ihm nicht, diese Personen zu finden und zu einem Interview zu motivieren, so dass die verbleidenden wiederum inhaltlich für mich nicht interessant werden.


Analytisch betrachtet passt hier sehr viel und kann man den Roman durchaus als gelungen bezeichnen, aber er kann nicht unterhalten und macht schlichtweg keine Freude.  Leider steht er hier in einer guten deutschen Tradition, dass mit Preisen (bzw. Nominierungen) geehrte Romane nicht nur sperrig, sondern quälend beim Lesen sind. Blicke ich auf die Longlist des Man Booker Prize 2016, habe ich dort literarisch ausgereifte Bücher gefunden, bei denen jede Seite auch ein Genuss zu lesen ist. Es muss nicht malträtieren, um gut zu sein.

Samstag, 3. September 2016

Elena Ferrante - Meine geniale Freundin

Rezension, Roman, Italien,

Lila und Elena, beste Freundinnen seit Kindheitstagen in einem weniger wohlsituierten Viertel Neapels. Die eine, Lila, Tochter eines Schusters, ohne große Zukunft vor sich, obwohl sie offenkundig mit hoher Intelligenz gesegnet ist und diese wohldosiert einzusetzen weiß. Die andere, genannt Lenù, ebenfalls recht klug, aber sie muss hart pauken, um die entsprechenden Schulleistungen zu erbringen. Für Lenù steht nach der kurzen obligatorischen Grundschule der Weg zur höheren Bildung offen, immer wieder angestachelt durch Lila führt dieser wider Erwarten in ungeahnte Höhen, bis hin zum Gymnasium, wo sie Latein und Griechisch lernt. Für Lila bleibt alles beim Alten: das bekannte Viertel, die Arbeit in der Schusterei, die bekannten Gesichter. Doch aus dem Mädchen wird eine attraktive junge Frau, die schon bald sehr viel Aufmerksamkeit erregt und zwischen alte Fehden gerät.

Wenn ein Roman mit einem solchen Marketingaufwand schon lange vor der Veröffentlichung in aller Munde ist, stellt sich unweigerlich Neugierde ein. Für mich hierbei besonders überraschend: dass Romane bejubelt werden, ist keine Seltenheit, aber dass sich das literarische Feuilleton und die eher massenorientierten Kanäle einig sind bzw. überhaupt über dasselbe Buch sprechen, erstaunt da schon eher. Beim Lesen jedoch hat sich dieser scheinbare Widerspruch schnell aufgelöst: ja, das Buch kann sowohl die einen wie auch die anderen bedienen und wer sich gleichermaßen lesend bewegt, kann sich doppelt freuen.

Band eins der Tetralogie erzählt die Kindheit und Jugend der beiden Frauen. Nuanciert werden Parallelen und Diskrepanzen zwischen den beiden Mädchen vorgestellt, immer wieder führt sie das unsichtbare Band jedoch wieder zusammen. Ohne Frage ist die Erzählerin Lenù sympathisch und lädt schnell ein, sie liebzugewinnen; faszinierender jedoch ist ihr Pendant, das in der Charakterzeichnung vielschichtiger und undurchschaubarer ist. Es braucht keine großen Beschreibungen, die Episoden ihres Lebens, das scheinbar widersprüchliche Handeln charakterisieren diese junge Frau in ausreichendem Maße und lassen Raum für psychologische Spekulationen – insbesondere darüber, was in den kommenden drei Bänden erzählt werden wird. Auch wenn die Erzählerin zurückblickt, wählt sie doch in dieser Passage den Blickwinkel des unwissenden Mädchens, was den Einblick in die neapolitanische Gesellschaft der 50er Jahre insbesondere spannend gestaltet, vieles bleibt vage und nicht begreifbar für die jungen Figuren – die Aussagen lassen jedoch wenig Raum für Interpretation. Die Rolle der Familienclans und mafiöse Strukturen werden mehr als deutlich kritisiert.

Blickt man weniger tief in den Roman, besticht die Sprachgewaltigkeit der Autorin. Ein Plauderton, fast wie von einer Freundin, der immer die richtige Note trifft, lässt den Text regelrecht dahingleiten, so dass die gut 400 Seiten im Nu vorbeifliegen. Wunderschön leicht erzählt sie von der Freundschaft und auch innigen Zuneigung zwei Mädchen – einem Thema, das insbesondere Leserinnen leicht ansprechen dürfte.


Ja, es gibt literarisch anspruchsvollere Bücher, aber wenige sind dabei so unterhaltsam und leicht. All dem Lob für Elena Ferrante – wer auch immer sie sein mag – kann ich mich sehr leicht anschließen. 

Freitag, 2. September 2016

Eva Schmidt - Ein langes Jahr

Roman, Rezension, Longlist, Deutscher Buchpreis

Eine Siedlung am See. Sie könnte überall in Deutschland sein. Mehrere Hochhäuser, deren Bewohner sich gegenseitig beobachten, gelegentlich im Aufzug begegnen und manchmal ins Gespräch kommen. Benjamin hätte gerne einen Hund, doch seine Mutter ist dagegen. Herr Agostini kennt das Problem, nur ist es bei ihm die Ehefrau, die den Wunsch nicht teilt. Nachdem sie ins Pflegeheim muss, kann er sich seinen Traum endlich erfüllen und Benjamin kann ihn bei der Sorge um das Tier unterstützen, denn Herr Agostini auch ist auch nicht mehr gut zu Fuß. Karin lebt ebenfalls in einem der Häuser, auch Gloria und Marcel begegnen wir und so vergeht ein langes Jahr, in dem sich für viele der Bewohner ganz wesentlich etwas ändert. Manche leben am Ende des Jahres nicht mehr, andere haben neue Partner gefunden.

Eva Schmidt fängt in ihrem Episodenroman den Alltag in Deutschland ein. Normale Menschen wie Du und ich kommen darin vor mit ihren kleinen und großen Sorgen und Nöten. Mit Erwartungen an ihre Mitmenschen, de schwer enttäuscht werden, mit Hoffnungen aufs Leben, die ebenfalls keine Erfüllung finden. Das Jahr hat wenig Gutes für die Bewohner dieser namenlosen Siedlung vorgesehen, aber so ist das Leben, Unfälle, Krankheit und Süchte verhindern bisweilen das Glück. Immer wieder kreuzen sich die Wege der Figuren, mal kommt es zu sehr kurzen Begegnungen, mal entwickelt sich mehr daraus; manchmal sehen sie sich nur aus der Ferne, manchmal möchten sie sich gar nicht mehr sehen – ganz wie im echten Leben.

Der Roman ist für den Deutschen Buchpreis 2016 nominiert, es stellt sich die Frage, wie die Jury zu der Entscheidung kam, in auf die Longlist zu setzen. Sicherlich ist es der Autorin gelungen, die Realität sehr detailliert und unprätentiös einzufangen. Alle Figuren und Episoden wirken durch und durch authentisch und zeugen von einer großen Beobachtungsgabe. Allerdings führt dies für meinen Geschmack zu einer sehr schlichten Alltagssprache im Buch, die mir zu wenig poetisch ist, um eine solche Auszeichnung zu erhalten. Das Verweben der bisweilen sehr kurzen Begebenheiten gelingt der Autorin jedoch unglaublich gut. Erscheinen diese zunächst lose und zusammenhanglos, entsteht erst nach und nach ein Gesamtbild, in dem alle Figuren ihren Platz in einer komplexen Figurenkonstellation haben. Konstruktion und Realitätsnähe können für mich die Platzierung auf der Longlist rechtfertig, die sprachliche Umsetzung jedoch nicht.

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