Francois, Dozent der Literatur an der angesehenen Sorbonne
III, interessiert sich nur mäßig für das Leben um ihn herum. Huysmans gilt
seine ganze Aufmerksamkeit – und den jungen Studentinnen, mit denen er Affären
und kurze Beziehungen im Rhythmus des akademischen Jahres zu haben pflegt. Als
2022 die Präsidentschaftswahlen anstehen, ist er entsprechend eher
uninteressiert, bis Frankreich vor einer nie dagewesenen und dramatischen
Konstellation steht: die beiden Kandidaten des zweiten Wahlgangs werden vom
Front National und der Muslimbruderschaft gestellt. eine unmögliche Wahl –
rechtsextrem oder islamistisch. Die Parteien entscheiden sich für die
Unterstützung der Muslime und bald schon sieht das Land sich einer
unglaublichen Veränderung gegenüber.
Das Buch, das am Tag der Charlie Hebdo Attentate
veröffentlicht wurde ist für mich das mit Abstand beeindruckendste Werk
Houellebecqs. Er bleibt zwar immer noch bei dem (männlichen) Individuum, das
gewissen Bindungsschwächen aufweist, doch dieses Mal sind Politik und Religion
die großen Leitthemen des Romans. Längere Passagen erläutern die Lage
Frankreichs und das komplizierte Verhältnis zwischen Christen, Juden und
Muslimen; die gespannte politische Lage mit einer unglaublich starken
Rechtsextremen Partei und die Angst vor einer Islamisierung. Besonders
überzeugend für mich die Konstruktion eines eher apolitischen Protagonisten,
der denkt alles ignorieren und sein Leben in der Seifenblase fortführen zu
können. Als Literaturwissenschaftler mit einer scharfen Beobachtungsgabe
ausgestattet, kann er die kleinen Veränderungen – zunächst individuell und
weniger bedeutend, wie der Umzug der Familie einer jüdischen Studentin nach
Israel noch bevor eine endgültige Entscheidung gefallen ist, das Verschwinden
der koscheren Produkte im Supermarkt, die Frauen, die plötzlich Hosen statt
Miniröcke tragen – zuerst wahrnehmen und nach und nach in ein neues Bild seines
Heimatlandes zusammenfügen. Als er selbst unmittelbar von den neuen Strömungen
betroffen wird, muss auch er sich mit den neuen Gegebenheiten auseinandersetzen
und sich der Frage stellen, an welchen Gott er letztlich glaubt.
Auch ohne die Verkaufszahlen fördernden Ereignisse des Januar
2015: ein durch und durch intelligentes Gedankenkonstrukt, das auf ganzer Linie
überzeugen kann. Sprachlich ebenso ansprechend und erfreulich fernab des
gewohnten Houellebcqschen Hang zum Vulgären.